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Erfahrungsberichte: Jakobs Geschichte

Niedergeschrieben und an tate.at geschickt von Ottilie S., der Mutter von Jakob. DANKE!

Jakob kam im Dezember 1985 zwei Wochen zu früh zur Welt. Geweint hat er in seiner ersten Nacht nur, wenn ich das Licht ausgeschaltet hatte. Ich hab damals schon versucht, ihm zu erklären, dass Neugeborene in den ersten Tagen nicht sehen können, folglich bräuchten sie auch kein Licht. Überreden konnte ich ihn nicht.

Das erste Jahr mit ihm war für mich recht schwierig. Nicht nur, weil er meinen Tagesrhythmus ganz selbstverständlich völlig durcheinandgebracht hat, das tun ja die meisten Säuglinge. Er hat viel weniger geschlafen, als er meinen Informationen zufolge hätte schlafen müssen. Und wenn er nicht geschlafen hat, dann musste sich um ihn herum was rühren. Ich hab ihn viel herumgetragen.

Nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, keine Bücher mehr zu lesen, sondern mich auf Kurzgeschichten beschränkte, hatten wir eine schöne Zeit. Wir wohnten damals in einer Wohngemeinschaft und es war immer was los. Um Mutter-Kind-Gruppen habe ich einen großen Bogen gemacht, es hat mich nicht interessiert, was andere Kinder schon können oder eben nicht. Ich hatte keinen Vergleich, weil ich ihn nicht wollte.

Als Jakob zweieinhalb Jahre alt war, übersiedelten wir in eine eigene Wohnung. Das hat er mir anfangs recht übel genommen, bis er die Vorteile einer Siedlung für sich in Anspruch nehmen konnte. Es waren viele Kinder in seinem Alter dort, er konnte sich seine Freunde aussuchen.

Im Kindergarten ist Jakob nur dadurch aufgefallen, dass er sich sowohl seine Spielkameraden als auch die Spiele recht genau angesehen hat, bevor er sich auf jemanden oder etwas eingelassen hat.

In dieser Zeit habe ich meinen Mann kennengelernt. Ein Jahr später war ich verheiratet und erwartete ein Kind. Mein Mann hat sich viel mit Jakob beschäftigt und war schon bald der Meinung, dass er eigentlich in die Schule gehen sollte. Aus Rücksicht auf den Jungen habe ich nichts unternommen, ihn schon ein Jahr früher einschulen zu lassen. Ich wollte ihm genug Zeit geben, sich auf den neuen Mann und auf die kleine Schwester einstellen zu können.

Die Volksschulzeit war für Jakob recht unbeschwert. Der Unterrichtsstoff war leicht zu bewältigen und er konnte sich anderen Dingen zuwenden. Schwierigkeiten bereiteten ihm Ungerechtigkeiten zwischen den Klassenkameraden. Er hat sich immer wieder für einen Mitschüler eingesetzt, der ein typischer Außenseiter in der Klasse war, der von den anderen gehänselt und gequält wurde. Erzählt hat er davon zu Hause nie etwas. Er war schon damals davon überzeugt, dass er solchen Aufgaben allein gewachsen ist. Nur wenn es für ihn unerträglich wurde, haben wir wieder davon erfahren. Er hat eine auffällig hohe soziale Kompetenz bewiesen in dieser Zeit.

Jakob kam anschließend aufs Gymnasium. Ich habe nie verstanden, warum die Eltern seiner MitschülerInnen über den großen Lernstoff geklagt haben. Jakob hat nie für die Schule gelernt, nicht einmal die Vokabeln, ja ich vermute sogar, er hat auch die Aufgaben nicht gemacht. In der dritten Klasse gabs dann die ersten größeren disziplinären Schwierigkeiten. Hatte er noch im Semesterzeugnis ein sehr zufriedenstellend in Betragen, stand da am Schulschluss nicht zufriedenstellend. Damals hatte ich noch das Gefühl, die Sommerferien würden ihn einigermaßen beruhigen und mit neuer Energie und ausgeruht würde sich das im neuen Schuljahr schon geben. Dem war nicht so. Jakob hat sich allerhand zu Schulden kommen lassen in der vierten Klasse. Da er uns zu Hause ja immer noch nichts erzählte über die Schule, erfuhren wir seine Missetaten immer lawinenartig bei diversen Rügen durch Klassenvorstand, Direktor, ja es ging sogar bis zu einer Rüge durch den Landesschulinspektor und einer einwöchigen Suspendierung vom Unterricht. Ich hab die Welt nicht mehr verstanden. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich war immer wieder knapp am Verzweifeln. Ich hab die Pubertät für sein Verhalten verantwortlich gemacht, und natürlich in erster Linie auch mich selber. In unserer Verzweiflung haben wir mit Jakob einen Schulpsychologen aufgesucht. Dort wurde ein Test mit ihm gemacht und der Schulpsychologe war nach dem Ergebnis gar nicht verwundert, dass Jakob Probleme in der Schule hatte. Er meinte, unser Sohn sein hochbegabt und in der Schule einfach unterfordert. Irgendwie waren wir auch gar nicht überrascht.

Nachdem Jakobs Betragensnote sich nicht gebessert hatte, war es nicht möglich, die Schule nach der Unterstufe zu wechseln. Jakob belegte in der fünften einen Pluskurs (Filmproduktion), der ihn sehr interessierte, er hat sich nebenbei zu Hause mit Computerprogrammen zur Herstellung von Homepages beschäftigt und seine sozialen Kontakte gepflegt. Seine Freunde und Freundinnen waren alle deutlich älter als er und deshalb gab es immer wieder heftige Diskussionen über Ausgehzeiten, Jugendschutzgesetz etc. und natürlich nicht nur Diskussionen sondern auch Überschreitungen. Die Schule wurde immer mehr eine in Vergessenheit geratene Randerscheinung, nicht sehr oft besucht und samt Lehrern nicht sehr ernst genommen. Es kam, wie es kommen musste, gegen Schulschluss flatterten die "Gelben Zettel" nur so ins Haus. Nach einem größeren Zusammenbruch hat Jakob all seine Kraft zusammengenommen und den Lernstoff des Schuljahres in den letzten Wochen vor Schulschluss nachgelernt und die Klasse positiv (Klausel in Englisch) abgeschlossen. Es gab in diesem Schuljahr kaum mehr disziplinäre Probleme, wohl auch, weil er einfach oft nicht hingegangen ist.

Ich habe in diesem Jahr einige Bücher über Hochbegabung gelesen. Schön langsam wird mir bewusst, in welcher Misere er sich in seiner schwierigsten Zeit befunden hat. Langsam beginne ich zu verstehen, wieso es so weit kommen konnte. Jakob ist seit Schulbeginn in einer neuen Schule, in der er kein "Vorstrafenregister" (O-Ton des Direktors der hinter sich gelassenen Schule) als unüberbrückbare Vorgabe mit sich herumschleppt. Er fühlt sich wohl dort.

Am Anfang der Sommerferien hat Jakob den Wunsch geäußert, ab Herbst nebenbei studieren zu wollen. Er hat sich mit dem Begabtenzentrum hier in Salzburg in Verbindung gesetzt, einen speziellen Test bestanden und ist in das Projekt "Schüler an die Uni" aufgenommen worden. Er hat seine Nachprüfung bestanden und sich an der Uni Salzburg im Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaften einschreiben lassen. Er wirkt sehr zufrieden.

Ich weiß nicht, ob uns diese vielen Schwierigkeiten erspart geblieben wären, wenn ich die Bücher schon früher gelesen hätte. Ich fürchte, ich hätte sie nicht gelesen, wohl aus dem selben Grund, aus dem sich auch die meisten Lehrer keine Gedanken über diese Kinder machen. Weil Hochbegabte nicht förderungswürdig sind?! Weil unsere Hilfe den Armen und Schwachen gelten muss?! Weil Menschen, die von Natur aus mit gewissen Vorzügen ausgestattet sind, keine spezielle Unterstützung in Anspruch zu nehmen brauchen?! Sie sollen einfach nur zeigen, was sie draufhaben, Leistungen erbringen, mit denen sich ganz gern auch andere schmücken können.

Die Auseinandersetzung mit Jakob und seinen Problemen war für mich eine große Herausforderung. Dass ich die Herausforderung erst angenommen habe als es schon problematisch wurde, hat damit zu tun, dass ich die Arbeit mit speziellen Begabungen ausschließlich mit "Eislaufmuttis" in Verbindung bringen konnte. Jakob hat mich eines Besseren belehrt, darüber bin ich letztlich froh. Und für seinen Langmut muss ich mich bei ihm auch noch bedanken.

Jakobs Geschichte ist noch nicht zu Ende, aber immer öfter kann ich mich zurücklehnen und ihm zusehen, wie er, gar nicht ungeschickt, sein Leben selber in die Hand nimmt.

>>> Ich möchte auch einen Bericht schreiben!