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Erfahrungsberichte: Richards Geschichte

Niedergeschrieben und an tate.at geschickt von Barbara K, der Mutter von Richard. DANKE!

Richard wurde im Juni 1997 geboren. Er war ein ganz normales Baby, wobei mir nur auffiel, dass er bereits in seinen ersten Lebenstagen, die Umwelt mit großen, staunenden Augen intensiv betrachtete. Sonderbar fand ich nur, dass er als Baby und Kleinkind NIE Gegenstände in den Mund nahm, sondern sie lieber mit den Händen und Augen analysierte.

Die erste wirklich schwierige Zeit mit ihm hatte ich, als er so zwischen 14 und 20 Monate alt war. Er bekam starke Wutanfälle, Schlafstörungen und war sehr unausgeglichen. Erst später wurde mir klar, dass sein Verhalten offenbar damit zusammenhing, dass sein Denken und Fühlen viel weiter waren als seine Sprach-Entwicklung und er darüber zornig war, sich nicht richtig artikulieren zu können. Als er dann mit etwa 20 Monaten endlich "gut genug" sprechen konnte, war er auch wieder ruhiger und fröhlicher.

Mit 18 Monaten fing er - zu meinem großen Erstaunen - an, sich für Buchstaben zu interessieren. Über dem Wickeltisch hing ein Märchenposter mit der Aufschrift "Sterntaler" und bald darauf kannte er alle darin enthaltenen Buchstaben und es machte ihm Spaß, danach zu fragen bzw. auf Fragen richtig zu antworten. Ich verdrängte damals meine ersten Verdachtsmomente für die nächsten zwölf Monate. Zwischen zwei und zweieinhalb Jahren lernte er die wichtigsten Farben, die Ziffern von 0 bis 9, weitere Buchstaben und kannte fast alle Automarken. Das war überhaupt seine Leidenschaft: Autos zu erkennen und zu benennen. Sein Wortschatz war schon ziemlich groß und er sprach in ganzen Sätzen. Als er dann zu Weihnachten im Alter von zweieinhalb ein normales 20-teiliges Puzzle (kein Kleinkinder-Puzzle) geschenkt bekam und richtig legte, meine Eltern und die Tagesmutter feststellten, er sei offenbar sehr weit, fing ich wieder an, mich mit dem Thema "Hochbegabung" zu beschäftigen. Da Richard mein erstes und einziges Kind war, hatte ich keine Vergleichsmöglichkeiten und bei diversen Kleinkinder-Treffen fiel er nie besonders auf.
Im Internet fand ich einige Seiten zum Thema und auch diverse "Checklisten" für Babys und Kleinkinder. Ich stellte fest, dass die meisten Punkte zutrafen.

Meine Erkenntnis, möglicherweise ein hochbegabtes Kind zu haben, war zunächst mehr ein Schock denn eine Freude.

Angst und Zweifel kamen hoch. Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte, ob ich mir das nicht doch alles nur einbilde und vor allem, ob mein Kind damit glücklich leben wird können.

Bevor ich weitere Erlebnisse schildere, setze ich kurz die wichtigsten Punkte seiner Entwickung fort. Im Alter von drei Jahren konnte er Mengen erfassen und abzählen, freies Zählen bis 30, mit vier Jahren zählte er bis 100 (ein Mal und dann nie wieder, denn wer er etwas konnte, war es nachher uninteressant und wurde "ad acta" gelegt). Er kannte alle Buchstaben und schrieb einzelne Wörter nach Diktat (auf seinen Wunsch). Zwischen dreieinhalb und vier löste er auch bereits die Aufgaben von Vorschulheften. Ab viereinhalb begann er sich an das Kindergarten-Niveau anzupassen und machte keine sichtbaren intellektuellen Fortschritte mehr. Er flüchtete in Fantasie-Welten und begann viel zu zeichnen und malen. Er ist ein sehr guter Zeichner, etwa auf dem Niveau von Sieben- bis Achtjährigen und benutzt es als "Ventil" bei Problemen und zur Entspannung.

Nun ist er fünf Jahre alt. Er kann noch nicht lesen und will es auch vor der Schule nicht lernen. Das akzeptiere ich. Er spielt gerne Spiele ab sieben oder acht, zum Beispiel Caracassonne, Vier gewinnt, Junior-Labyrinth (war aber nach zweimaligen Spielen schon wieder fad, weil er es dann konnte). Ich lese ihm viel vor, auch hier liebt er Bücher für Sechs- bis Achtjährige. Seine beste Freundin ist acht Jahre alt, er spielt am liebsten und vor allem ausdauernd mit älteren Kindern.

Seit er 3 1/4 ist, geht er in einen pädagogisch sehr gut geführten öffentlichen Kindergarten. Die Leiterin ist sehr erfahren und lässt viele Montessori-Prinzipien in ihre Arbeit mit den Kindern einfließen. Sie bemerkte nach wenigen Wochen Richards Begabung, nimmt darauf teilweise Rücksicht, "Extrawürste" gibt es aber nicht für ihn. Das erste Kindergarten-Jahr verlief problemlos. Im zweiten Jahr wurde Richard auffällig. Er schien müde, lustlos, besonders lärmempfindlich und wurde sehr sensibel. Die Kindergärtnerin bat mich zum Gespräch, vermutete Wahrnehmungsstörungen und empfahl uns eine Ergotherapie. Ich checkte alles durch, sowohl den gesundheitlichen Zustand als auch ein Besuch bei der Ergotherapeutin - alles zum Glück ohne auffälliges Ergebnis. Abschließend ließ ich ihn von einer Psychologin des Landesschulrats für Niederösterreich testen. Das Ergebnis bestätigte meine bisherige Vermutung, an der ich aber oft genug gezweifelt hatte: Lebensalter 54 Monate, Intelligenzalter mindestens 71 Monate, überdurchschnittlicher Entwicklungsvorsprung in allen Bereichen. Aufgrund der o.a. Schwierigkeiten im Kindergarten wurde mir klar: Hochbegabung ist ein kostbares Geschenk - eben eine "Gabe" - und man muss behutsam damit umgehen. In einem neuerlichen Gespräch mit der Kindergärtnerin klärte ich sie über die Situation auf. Sie war offen und interessiert und die Lage im Kiga besserte sich wieder. Spezielle Förderung für ihn gab und gibt es aber nicht. (Schließlich ist er ja kein behindertes "Integrationskind" und hat daher darauf auch keinen offiziellen Anspruch.)

Nach einigen Monaten fiel mir auf, dass sich Richard "anpasste". Es ist ihm sehr wichtig, in der Gruppe integriert zu sein, sozusagen "dazu zu gehören". Er lernte nichts mehr dazu, blieb auf seinem Wissenstand stehen und verweigerte alles, was mit Schule oder Schulvorbereitung zu tun hat. Vorschulhefte - die er ja jetzt als "Fünfjähriger" endlich lösen "darf" - interessieren ihn nicht mehr. Unter anderem auch, weil er die Aufgaben ohnehin schon mit dreieinhalb lösen konnte. Vielleicht auch, weil er die Erfahrung machen musste, dass er nicht zu viel können darf, dass er noch zu jung sei, usw.

Dennoch blicke ich optimistisch in die Zukunft. Er wird im Herbst 2003 regulär eingeschult. Und ich habe schon eine Schule mit verständnisvoller Direktorin und Klassenlehrerin gefunden. In dieser Schule wird differenzierter Unterricht angeboten und es gibt schon Erfahrungen mit Schülern, die dort Klassen übersprungen haben. Ich hoffe, die Schule hält, was sie verspricht.
Zum Glück hatte ich Richards Begabung früh genug erkannt. Sehr hilfreich dabei waren die Informationen im Internet und eine private Mailingliste betroffener Eltern aus Österreich und Deutschland. Dort bekam ich viele Anregungen, Tipps, Antworten auf meine Fragen und Zuspruch bei Zweifeln.

Abschließend möchte ich noch eine Botschaft vermitteln und einen Wunsch aussprechen:
*Es gibt in der Bildungspolitik neuerdings diesen schönen Ausdruck für behinderte Kinder, der da lautet "Kinder mit besonderen Bedürfnissen". Daraus wird dann das Recht auf Förderung abgeleitet. Diese Formulierung finde ich sehr gut und treffend. ABER: auch hochbegabte Kinder sollten diesen "Status" bekommen = "Kinder mit besonderen Bedürfnissen".

>>> Ich möchte auch einen Bericht schreiben!